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„Ich war plötzlich auf Seiten, auf denen ich nichts mehr verstanden habe“

Vom Topmanager zum Digitalminister: Karsten Wildberger spricht über seine ersten Monate in der deutschen Bürokratie, die er bekämpfen soll. Wie will er die in den Griff bekommen?

SPIEGEL: Herr Wildberger, für Ihren neuen Job als Digitalminister haben Sie auf 2,6 Millionen Euro Gehalt pro Jahr verzichtet. Haben Sie es schon bereut?

Wildberger: Als der Anruf von Friedrich Merz kam, haben wir über das Gehalt überhaupt nicht gesprochen. Diese Aufgabe ist eine Ehre und eine große Herausforderung. Das lässt sich mit Geld nicht aufwiegen.

SPIEGEL: Vor Ihnen gab es keinen Vollzeit-Digitalminister, Sie müssen jetzt das ganze Ministerium neu aufbauen. Hat Merz Sie einfach so angerufen und gefragt?

Wildberger: Ich kannte Friedrich Merz von Veranstaltungen, aber eher oberflächlich. Als er mich auf dem Handy anrief und mir das Angebot machte, war ich natürlich überrascht. In der Nacht darauf habe ich nicht so gut geschlafen. Die Entscheidung war trotzdem recht schnell klar. Ich bin nicht nur Kopf- sondern auch Bauchmensch. Und dieses Angebot hat sich von Anfang an richtig angefühlt.

SPIEGEL: Sie hatten weder Verwaltungserfahrung noch Erfahrung in der Politik. Was hat Sie nach dem Wechsel am meisten überrascht?

Wildberger: Die Kolleginnen und Kollegen hier. Die haben – flapsig gesagt – wirklich Bock, was zu verändern. Die Bereitschaft mitzuziehen ist groß, obwohl die Arbeitslast natürlich enorm ist.

SPIEGEL: Als CEO haben Sie Ihre Arbeit an Quartalszahlen ausgerichtet. Das Tempo war hoch. Macht es Sie nicht unzufrieden, wenn Sie sehen, wie lange die Dinge in der Verwaltung dauern?

Wildberger: Der Druck der Quartalszahlen hat mich geprägt, ja. Aber das hilft mir jetzt, weil ich in der Lage bin, mit dieser Art von Stress umzugehen. Ich habe mir das Zutrauen antrainiert, dass die Dinge am Ende klappen. Der Erwartungsdruck ist ja auch hoch. Zugleich spüre ich schon eine große Unruhe, weil einige Prozesse tatsächlich langwierig sind. Es ist mir ein Anliegen, dass wir bei der Modernisierung unseres Staates schnell vorankommen.

SPIEGEL: Sie befinden sich jetzt auch mitten in politischen Verteilungskämpfen. Der Kanzler wollte Ihnen den wichtigsten Bundes-IT-Dienstleister mit knapp 5000 Mitarbeitenden zuschlagen, das ITZ Bund. Vizekanzler Lars Klingbeil weigerte sich, er will es bei sich im Finanzministerium halten. Noch immer gibt es keine Lösung. Haben Sie ein Autoritätsproblem?

Wildberger: Nein. Lars Klingbeil hat uns bisher sehr gut unterstützt. Aber einige Aufgaben des ITZ-Bund liegen einfach in der Hoheit des Finanzministeriums. Zugleich ist dieser IT-Dienstleister für mein Haus enorm wichtig. Er unterstützt mehr als 200 Behörden in Deutschland bei der Modernisierung ihrer IT. Da müssen wir eine Lösung finden. Aber im Kabinett läuft alles sehr kollegial.

SPIEGEL: Naja. Die ersten Digital-Debatten starteten andere Kabinettskollegen: Kulturstaatsminister Weimer forderte eine Digitalabgabe für Tech-Konzerne, Familienministerin Prien ein Mindestalter für Social Media. Fühlten Sie sich da nicht übergangen?

Wildberger: Ich bin da entspannt. Ich lerne die Politik noch kennen, aber meine Haltung ist: Man muss nicht alles zu einer Machtfrage machen. Digitalisierung ist eine Aufgabe, die alle im Kabinett betrifft. Und wenn am Ende etwas vorangeht für die Bürgerinnen und Bürger, bin ich zufrieden.

SPIEGEL: Einer aktuellen Umfrage zufolge glauben 73 Prozent der Bürger, der Staat könne die Herausforderungen im Land nicht bewältigen.

Wildberger: Das treibt mich wirklich um. Das ist eine Entwicklung, die bedrohlich ist für die Demokratie. Bürger erwarten einen funktionsfähigen Staat. Sonst stellen sie irgendwann die Systemfrage. In Deutschland läuft zwar vieles besser als anderswo. Aber es gibt eben auch genug Baustellen. Das ist ein Grund, warum ich hier arbeite.

SPIEGEL: In der Start-up-Welt gibt es den Spruch: »Eat your own dogfood«. Mitarbeiter sollen das Produkt, an dem sie arbeiten, auch selbst benutzen. Haben Sie selbst schon mal eine digitale Dienstleistung des Staates genutzt?

Wildberger: Ja. Das Steuerportal Elster. Das ist tatsächlich eine der erfolgreichsten digitalen Dienstleistungen mit extrem hohen Nutzerzahlen. Und den digitalen Personalausweis, mit dem ich mich online ausweisen kann, habe ich auch. Das funktioniert gut. Aber als Minister habe ich durch viele andere Anwendungen geklickt. Da herrscht zum Teil Wildwuchs. Nach wenigen Klicks war ich plötzlich auf Seiten, auf denen ich nichts mehr verstanden habe.

SPIEGEL: Sie haben sich Projekte mit »Hebelcharakter« vorgenommen, die zeigen sollen, dass Deutschland es kann. Dazu zählt, dass man bald flächendeckend sein Auto online anmelden kann. Exakt dieses Versprechen machte Ex-Kanzler Gerhard Schröder erstmals im Jahr 2001. Und Ihnen soll das jetzt gelingen?

Wildberger: Wir haben einen guten Ansatz. Bislang hat jede Kommune einzeln diese Dienstleistung angeboten. Künftig soll das alles zentral über ein Portal beim Kraftfahrtbundesamt laufen. Deshalb bin ich optimistisch und habe gesagt: Das kriegen wir hin.

SPIEGEL: 2017 nahm sich Deutschland die Digitalisierung sämtlicher Verwaltungsdienstleistungen vor. Behördengänge sollten elektronisch erledigt werden können: Wohnung ummelden, Eheschließung anmelden, Kindergeld beantragen. Von 579 Verwaltungsdienstleistungen sind 230 noch immer nicht digital verfügbar. Wie erklären Sie den massiven Rückstand?

Wildberger: Die Politik war lange der Auffassung: Man muss nur im Gesetz eine Pflicht zur Digitalisierung formulieren, dann läuft es schon. Tut es aber nicht. Wir haben in Deutschland ein komplexes System mit unterschiedlichen Ebenen: Bund, Länder und Kommunen. Bei Leistungen des Bundes ist es noch vergleichsweise leicht. Aber eine Eheschließung oder Wohnung melden Sie direkt bei der Kommune an. Und wenn jede Kommune ihre Leistungen selbst digitalisiert, entsteht eine unfassbare Vielfalt an Portalen. Wir sind bei unserer Hochrechnung auf bis zu 8000 gekommen. Die sind von unterschiedlichen Anbietern programmiert worden und kommunizieren untereinander nicht.

SPIEGEL: Sagen Sie als Ex-CEO: Der Bund müsste in Sachen Digitalisierung Top-down Vorgaben machen können – also ein System für alle vorgeben?

Wildberger: Das machen wir ja jetzt bei der Kfz-Anmeldung. Die Herausforderung wird sein, bei den 400 Kraftfahrzeugbehörden vor Ort die Prozesse umzugestalten. Aber die Bürger sollen die Komplexität nicht spüren: Sie loggen sich alle in das gleiche System ein. Auch wenn es um die Anmeldung des Wohnsitzes geht: Warum soll da jede Kommune ihre eigene Lösung bauen? Eine Lösung reicht. Einige Kommunen haben ja auch sehr gute Portale, die man als Blaupause nehmen kann. Aber ich will Ihnen nichts vormachen: Einfach wird das nicht.

SPIEGEL: In Ihrer Modernisierungsagenda geht es auch darum, dass künftig in der Verwaltung KI genutzt werden soll. Wie kann man sich das vorstellen?

Wildberger: Künstliche Intelligenz kann beispielsweise bei der Prüfung und Genehmigung von Bauanträgen helfen. Wir testen das gerade beim Thema Wasserstoffinfrastruktur, also wenn jemand eine Leitung bauen will. Es ist unglaublich, was für Aktenberge da aktuell bearbeitet werden müssen. Sechs Ordner voll mit Papier. Zwei allein nur mit dem Bodengutachten. Ein Sachbearbeiter muss dann erstmal prüfen: Sind alle Dokumente da? Sind die Voraussetzungen erfüllt? Das kann auch eine KI automatisiert übernehmen. Dann gibt es nur noch einige Punkte, an denen der Mensch kontrolliert. Ähnlich könnte man auch einen Hausbau genehmigen. In den zwölf Wochen, in denen wir jetzt daran arbeiten, haben wir schon eine Arbeitserleichterung von 70 Prozent für den Sachbearbeiter erreicht. Da bin ich ziemlich begeistert.

SPIEGEL: Neu ist das Projekt aber nicht. Daran wurde doch im Bundesinnenministerium mit mehreren Beratungsfirmen schon Jahre gearbeitet.

Wildberger: Ja, aber jetzt hat die Programmierung angefangen. Und alle zwei Wochen sitzen wir hier im Raum, ich lasse mich über den Fortschritt informieren. Und wir überlegen, ob wir das nicht größer denken können, damit künftig viele Genehmigungsverfahren deutlich schneller gehen.

SPIEGEL: Könnte KI künftig auch über einen Grundsicherungsantrag oder ein Asylgesuch entscheiden?

Wildberger: Grundsätzlich ja. Es hängt aber stark vom Fall ab. Bei sensiblen, wichtigen Entscheidungen muss ein Mensch drüber schauen. Es steht für mich aber außer Frage, dass eine gute KI 80 bis 90 Prozent solcher Arbeiten abnehmen kann, v.a. Routineaufgaben. Sachbearbeiter haben dann mehr Zeit für andere Dinge. Menschliche Kontakte zum Beispiel.

SPIEGEL: Albanien ist schon einen Schritt weiter und hat eine KI auf einen Ministerposten berufen. Arbeiten Sie daran, auch sich selbst überflüssig zu machen?

Wildberger: Sie sagen das jetzt halb im Scherz, aber das ist ein ernstes Thema. Mich treibt das um. Wir müssen es als Gesellschaft hinbekommen, dass die Künstliche Intelligenz den Menschen dient und sie nicht ersetzt. Wir Menschen brauchen sinnstiftende Aufgaben, die uns erfüllen. Um sicherzustellen, dass die Dinge in die richtige Richtung gehen, muss Europa selbst aktiver in der KI-Entwicklung werden. Nur dann können wir unsere Werte, unser Menschenbild einbringen.

SPIEGEL: Sie sind der Digitalminister – wie wollen Sie denn die KI-Entwicklung im Land befeuern?
Wildberger: Es fängt mit der KI-Verordnung der EU an. Die ist mir nicht innovationsfreundlich genug, sie hemmt eher. Als Konsequenz werden die Produkte im Ausland gebaut und wir sind nur Kunden. Das finde ich abstrus. Das Schöne ist ja: Die Unternehmen, die jetzt entstehen, wachsen mit unglaublicher Geschwindigkeit. Das süddeutsche KI-Start-up Black Forest Labs beispielsweise wurde im August 2024 gegründet und strebt aktuell eine Bewertung von vier Milliarden Dollar an. Das sollte uns Mut machen, da ist eine junge Generation mit Top-Ausbildung. Wir brauchen aber mehr von solchen Geschäftsmodellen, ein breiteres Momentum. Das fehlt mir.

SPIEGEL: Die KI-Verordnung der EU dient auch dazu, die Risiken durch KI einzudämmen. Je höher das Risiko durch ein KI-System für Gesundheit, Sicherheit oder Grundrechte, desto strenger sind die Regeln.

Wildberger: Ich muss doch bei der Entwicklung eines Produkts nicht vom ersten Moment an Hürde um Hürde aufbauen, um theoretische Risiken zu minimieren. Wir sollten erst einmal Innovationskraft zulassen und neue Produkte entwickeln. Und sie erst auf Herz und Nieren prüfen, bevor sie auf den Markt kommen sollen.

SPIEGEL: Also »Digitalisierung first, Bedenken second« – wie im alten Wahlslogan der FDP?

Wildberger: Ich sage: Entwicklung first, Regulierung second. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ich möchte Start-ups den Umgang mit anonymisierten Gesundheitsdaten ermöglichen. Sie können dann beispielsweise eine KI darauf trainieren, auf Röntgenbildern besser Krebs zu erkennen. Bisher fliegen die Gründer in die USA und forschen dort, weil sie das hier nicht können. Ich bin für mehr Vertrauen: Ich kenne kein junges Unternehmen in Europa, das Schaden anrichten oder gefährliche KI-Experimente machen will. Wir machen es ihnen unnötig schwer. Davon profitieren die US-Techgiganten. Sie beschäftigen riesige Rechtsabteilungen, die den Bürokatiepflichten leicht nachkommen können.

SPIEGEL: Sie könnten selbst junge KI-Firmen stärker unterstützen, indem sie ihnen staatliche Aufträge geben. Viele fordern genau das.

Wildberger: Glauben Sie mir, ich hätte da am liebsten längst den Startknopf gedrückt. Aber wir müssen das vergaberechtlich sauber hinbekommen. Das ist alles ein bisschen komplexer, als ich mir wünschen würde. Es nervt manchmal auch ein bisschen, zugegeben. Aber wir sind dran.

SPIEGEL: Für die Verwaltungsdigitalisierung sind seit 2001 unzählige Steuermilliarden versenkt worden. Ist es Hybris, wenn Sie jetzt sagen: Ich kriege das hin? Oder Naivität?

Wildberger: Worauf es ankommt, ist der Veränderungswille. Wir brauchen jetzt eine kritische Masse an Leuten, die bereit sind, mitzuziehen. Ich nenne das intern den Umsetzungsmuskel, den müssen wir trainieren. Er ist noch nicht groß genug, aber er ist schon sichtbar.

SPIEGEL: Und Sie sind in diesem Bild der Trainer?

Wildberger: Wenn Sie so wollen. Allein werde ich das jedenfalls nicht schaffen. Und das muss ich auch nicht. Wir haben mehr als 2000 interne Bewerbungen von Leuten aus der Bundesverwaltung, die in meinem Ministerium mitarbeiten, also Teil der Mannschaft werden wollen. Das macht mich optimistisch.

SPIEGEL: Herr Wildberger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Interview führten Maria Fiedler und Marcel Rosenbach.

Quelle: spiegel.de 

Karsten Wildberger: »Ich war plötzlich auf Seiten, auf denen ich nichts mehr verstanden habe« - DER SPIEGEL