Karsten Wildberger ist Deutschlands erster Digitalminister. Und die Frage ist: Kann er die Erwartungen erfüllen? Ein Gespräch über träge Behörden, nervige Betonwände und Powernaps im Büro.
Karsten Wildberger kann ihn einfach nicht finden. Normalerweise trägt der 55-Jährige einen Gesundheitsring am Zeigefinger, der seine Körperfunktionen überwacht, Puls, Schritte, Stresslevel, solche Sachen. Er kramt in seiner Aktentasche, in der Innentasche seines Jacketts, aber er ist einfach nicht da. Macht nichts, findet sich schon. Wildberger ist seit acht Wochen Digitalminister der Bundesrepublik Deutschland, der erste überhaupt. Bevor Friedrich Merz ihn in sein Kabinett holte, war der promovierte Physiker Manager bei Vodafone und T-Mobile, im Vorstand von Eon und zuletzt Chef der Elektronik-Kette Mediamarkt Saturn.
SZ: Herr Wildberger, kann man ein Ministerium führen wie ein Unternehmen?
Karsten Wildberger: Nein. Auch jedes Unternehmen führt man ja ein bisschen anders. Entscheidend ist immer, was man erreichen will – und wie das in der jeweiligen Kultur und im jeweiligen System umsetzbar ist.
Nun ist das System Politik für Sie völlig neu. Kommen Sie als Manager darin klar?
Ich bin nicht in der Politik sozialisiert, das stimmt, aber ich bin ein politischer Mensch. Und mit jeder Woche geht hier meine Betriebstemperatur weiter rauf. Die erste Frage, die ich mir in meinem gesamten Leben immer stelle, egal wo ich arbeite: Wie soll am Ende das Zielbild aussehen? Und von da aus denke ich rückwärts. Was ist möglich, was ist notwendig? Was ist realistisch, aber trotzdem ambitioniert? So habe ich das auch im Ministerium gemacht.
Und, wie sieht das Zielbild aus?
Ich will, dass wir 2029 wieder anders in die Zukunft blicken, wieder mehr an uns glauben. Dass wir mehr Start-ups haben und dass etablierte Unternehmen sich wieder mehr zutrauen. Dass wir im großen Stil KI-Rechenkapazitäten besitzen und eigene Basismodelle entwickeln. Dass die Kommunen den Bürgerinnen und Bürgern immer mehr digitale Behördenleistungen anbieten. Und dass die Menschen sagen: Es sind einige Dinge einfacher und digitaler geworden in diesem Land, die Politik meint es ernst.
Machen Sie es doch mal konkret: Müssen wir 2029 überhaupt noch aufs Amt? Oder sind bis dahin alle Behördenleistungen digitalisiert?
Das werden wir in vier Jahren nicht in allen Kommunen schaffen. Aktuell sind etwa 245 von 575 Leistungen gebaut, einige Kommunen sind weiter, andere hinken hinterher. Wichtig ist vor allem, etwas anders zu machen als in der Vergangenheit. Muss ich mich dafür im Gestrüpp der Bundesländer verirren? Nö, muss ich nicht. Wir werden uns jetzt mit mindestens zwei Bundesländern exemplarisch anschauen, welche Bürgerleistungen in bestimmten Kommunen gut funktionieren und was es braucht, um die flächendeckend auszurollen.
Welche Bundesländer werden das sein?
Ich liebe Stadtstaaten, aber ich möchte auch ein Flächenland dabeihaben. Das Ziel ist es, in zweieinhalb Jahren 50 Prozent mehr digitale Bürgerleistungen in diesen Ländern zu haben.
Und was ist mit den anderen?
Wenn wir in diesen Ländern den Nachweis erbringen, dass es funktioniert, kann davon eine enorme Dynamik ausgehen. Das wird die Prozesse in den anderen Ländern auch beschleunigen. Parallel dazu sammeln wir die besten digitalen Lösungen in den einzelnen Ländern ein und fragen, ob wir die als Bund allen zentral anbieten dürfen. Dann optimieren wir sie, überprüfen die Schnittstellen und machen sie über eine Cloud anschlussfähig für alle Kommunen. Quasi wie ein App-Store.
Die Idee gibt es, seit Horst Seehofer Innenminister war. Passiert ist seitdem wenig. Warum sollte das jetzt gelingen?
Die Idee ist nicht neu, das stimmt. Aber entscheidend ist nicht die Idee. Entscheidend ist, ob uns die Umsetzung gelingt. Die Idee einfach nur über den Zaun zu werfen und zu sagen ‚Macht mal‘, das reicht nicht. Wir müssen die Kraft des Ministeriums nutzen und uns operativ einbringen. Das ist in der Politik nicht der klassische Weg und es erfordert ein Umdenken in den Behörden. Aber ich bin überzeugt, dass es nur so geht.
In der Vergangenheit ist der Bund damit nicht durchgedrungen, einzelne Kommunen haben trotzdem ihre eigenen Lösungen gebaut. Wie wollen Sie das verhindern?
Das muss ein Ende haben. Wenn es einfach nur darum geht, Dinge selbst machen zu wollen, ist das kein gutes Argument. Mich interessieren die strukturellen Fragen, nicht die taktischen. Es geht da um Steuergeld, dafür lohnt es sich zu kämpfen. Und wenn ich etwas erreichen möchte, dann habe ich eine gewisse Beharrlichkeit, sogar eine gewisse Besessenheit.
Braucht es beim Thema Bürokratieabbau und Staatsmodernisierung auch in Deutschland die Kettensäge?
Ich muss den Baum nicht mit der Kettensäge fällen, ich kann ihn auch kräftig schütteln, das ist mitunter auch sehr effektiv. Ich schaue mir immer zwei Dimensionen an: Wie viel Wirkung erzielt etwas – und wie komplex ist das. Verrenne ich mich? Wie viele Betonwände sind da? Wenn da zu viele Betonwände sind, lassen wir es erst mal. Die Dynamik, die aufkommt, wenn sich etwas bewegt, befähigt einen hinterher, auch mutiger zu sein in einem anderen Kontext.
Also wollen Sie die dicken Bretter erst mal ignorieren?
Nein, aber wir müssen klug priorisieren. Ich weiß, wo die Latte liegt. Ich kenne die Erwartungen an mich, und es mangelt auch nicht an gut gemeinten Ratschlägen. Wichtig ist, dass wir ins Tun kommen. Nur durch Reden verändere ich kein Mindset. Die Menschen müssen sehen, da geht was, dann fängt auch der Einzelne an, sein Handeln zu überdenken. Das habe ich auch in Unternehmen gesehen, in denen eine echte Krise war.
Sprich: Deutschland steckt in keiner echten digitalen Krise.
Dieses Land hat so viele Fähigkeiten. Wenn ich mir die Forschung angucke, auch bei KI, da sind wir wirklich fortschrittlich. Es ist uns nur an manchen Stellen nicht gelungen, mit der Entwicklung Schritt zu halten. Wir haben supererfolgreiche Unternehmen, aber die wenigsten davon sind globale digitale Player. Die digitalen Geschäftsmodelle für den Weltmarkt kommen woanders her. Warum gibt es kein europäisches Chat-GPT, warum gibt es kein europäisches Kreditkartensystem? Diese Innovationskraft müssen wir in Europa entfalten.
Und wie soll das funktionieren?
Wir müssen weniger nationalstaatlich denken, sondern uns künftig immer direkt überlegen, wie wir 450 Millionen Menschen in der EU erreichen können. Es gibt kein Naturgesetz, das besagt, dass das nicht möglich wäre. Und auch die Bereitschaft der Menschen ist da. Bei Large Language Models – also großen KI-Sprachmodellen – ist Deutschland hinter den USA das Land mit der zweithöchsten Adaptionsrate. Die Welt der Menschen da draußen ist schon sehr digital.
Wie digital ist Ihre eigene Welt? Haben Sie alle Geräte von Mediamarkt Saturn schon mal ausprobiert?
Ich habe schon sehr viele Geräte zu Hause. Ich liebe Gadgets, ich kann mich auch für einen Staubsauger begeistern. Aber: Ich mag es nicht, wenn ich lange an Sachen herumfrickeln muss, bis sie funktionieren.
In der Regel tragen Sie einen Gesundheitsring, der Ihre Körperfunktionen überwacht. Sind Sie einer dieser Menschen, die morgens erst aufs Handy schauen müssen, um zu wissen, ob Sie gut geschlafen haben?
Wenn ich nicht gut geschlafen habe, weiß ich das von selbst. Und dann sagt mir das Gerät noch mal, dass ich echt nicht gut geschlafen habe. Dann denke ich: Danke. Nein, im Ernst: Ich nutze den Ring vor allem, um drei Sachen zu beobachten. Einerseits meinen Schlaf. Es hilft unheimlich, sich da besser zu kalibrieren, vorher ein bisschen zu meditieren, um runterzukommen. Dann ein paar Fitnesswerte, Schritte, tägliche Bewegung. Und dann misst der Ring auch den Stress. Da kann man unheimlich gute Techniken anwenden, mal eine Minute Atemübungen machen zum Beispiel oder mal einen Powernap, um runterzufahren.
Haben Sie im Ministerium schon mal einen Powernap gemacht?
Noch nicht, aber das kommt vielleicht noch.
Würden Sie sich als Selbstoptimierer bezeichnen?
Nein. Aber wenn ich die Wahl habe, das Gleiche zu tun, aber effektiver, dann finde ich das sehr sinnvoll. Ich würde eher sagen, ich lebe dadurch bewusster.
Ihr Gehalt haben Sie jedenfalls nicht optimiert: Statt 2,9 Millionen Euro verdienen Sie im Jahr jetzt etwa 220 000 Euro.
Diese Frage habe ich mir nie gestellt. Für diese Aufgabe gibt es keine Währung.
Werden Politiker zu schlecht bezahlt?
Die Frage ist: Was erwarten wir von Politikern? Der Job ist wahnsinnig intensiv, man muss viel arbeiten, eine Menge aushalten, alles findet in der Öffentlichkeit statt. Das ist eine große Herausforderung. Und es geht eine unglaubliche Verantwortung damit einher. Da geht es nicht primär um Geld. Jedes System lebt von Vielfalt, und von dem richtigen Mix. Wie wir den erreichen, beschäftigt mich mehr.
Sie sind kurz nach Ihrer Berufung in die CDU eingetreten. Warum war es keine Option, das Ministerium als Parteiloser zu führen?
Es war mir wichtig, mich zu bekennen. Ich bin zutiefst von der sozialen Marktwirtschaft überzeugt, ich glaube an die Kraft von Innovation und an den Markt. Das alles finde ich in der CDU. Ich mache mir große Sorgen um das Land. Es gibt eine ungemeine Polarisierung, extreme Positionen gewinnen an Zulauf. Und ich frage mich: Haben wir noch ausreichend Unterstützung für die Mitte? Wir müssen Menschen zurückgewinnen, wir müssen Vertrauen zurückgewinnen, und wir müssen die Mitte zurückgewinnen.
Wie wollen Sie das machen? Die Ampel hat viel gestritten, nun gibt es auch bei Ihnen den ersten Streit über die Strompreise.
Wer glaubt, dass in der neuen Regierung immer alles total harmonisch ablaufen wird, liegt falsch. Natürlich gibt es bei manchen Themen unterschiedliche Einschätzungen, das liegt in der Natur einer Koalition. Und natürlich wird es immer wieder Diskussionen geben. Jede Veränderung sorgt für Unruhe. Wichtig ist, dass wir die Diskussionen sachlich führen, nicht persönlich. Dass wir sie aushalten und am Ende Kompromisse finden. Das kann den Unterschied zur Ampelkoalition machen. Wir wissen alle, um wie viel es geht.
Das Interview führten Caspar Busse, Matthias Punz und Vivien Timmler.
Quelle: sueddeutsche.de
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